Leckschutz ist ein philosophisches Projekt, entstanden für das politische Feuilleton Rauchzeichen. Kleine zeitlose Widersprüche, die langsam in den Kopf aufsteigen.
Nicht alles ist Fortschritt, manches auch bloß Distinktion.
Früher: Mann vs. Frau = binary
Heute: Binary vs. NonBinary = the more sophisticated binary
Früher: Markt befreit Kunst von Aristokratie.
Heute: Markt befreit Kunst von Kunst.
Je suis eine Pfeife
Ich finde es immer spannend, wie Bilder entstehen. Dieses hier ist entstanden, als ich ein Programmheft hatte fertig stellen müssen, ich aber keine Grafikdesignerin bin, deshalb nicht sonderlich motiviert war und in Gedanken immer wieder geflüchtet bin in für mich spannendere Fragen, wie zum Beispiel: Wieso Identitätspolitik, eine ursprünglich soziale, auf mehr Gleichheit gerichtete Bewegung so fundamentalistische Züge angenommen hat (nicht nur in den Staaten, mittlerweile auch hier.) Wann ist der Diskurssee gekippt und warum? Haben die Menschen, die sich mit Identitätspolitik schmücken, etwa vergessen, auf welchem philosophischen Boden diese Bewegung gewachsen ist? Poststrukturalisten wie Foucault, Derrida, Deleuze, die uns mit ihren Sprachspielen eigentlich von der Identität hatten befreien wollen, würden mit dem Kopf schütteln, wenn sie sähen, wie wichtig uns Identität und damit Abgrenzung zum Anderen jetzt wieder geworden ist.
Während ich das denke, gucke ich Programmhefte an, um herauszufinden, wie man Programmhefte macht und frage mich weiter: Ob das Ganze vielleicht auch mit unserem übermäßigen Gebrauch von Identitätssätzen wie „Je suis Charlie“ oder „We are Floyd“ zu tun hat. Ich habe schon oft gedacht, eigentlich können wir nur sagen: Wir sind mit dir, Bruder! Oder: Ich fühle mit dir, Schwester! Aber wir können natürlich nicht Charlie oder Floyd sein und deshalb macht der Ausdruck nicht nur wenig Sinn, sondern könnte auch dazu beitragen, dass wir uns jetzt eher die Köpfe einhauen.
Denn wenn wir mal den konstruktivistischen Grundsatz: Sprache konstruiert Welt ernst nehmen und also statt mit Ähnlichkeiten und Analogien ständig mit Identitätssätzen um uns werfen, tragen wir wahrscheinlich zur Verschärfung bei, weil Menschen dann langfristig nicht mehr zu unterscheiden vermögen zwischen Ähnlichkeit und Identität. In Gesprächen ist mir aufgefallen, dass Analogieargumente oft nicht mehr als Ähnlichkeit in bestimmter Hinsicht, sondern sofort als Identität gelesen werden. Und natürlich: Wenn Menschen sich in ihrer Identität angegriffen fühlen, reagieren sie härter.
In einem Programmheft sehe ich Magrittes „Ceci n´est pas une pipe“ und ich denke: Je suis eine Pfeife (auch wegen des verdammten Programmheftes, dass ich immer noch nicht fertigbekommen habe). Und weiter denke ich: Ist Identität nicht selbst ein Bild, also eine Pfeife? Etwas Konstruiertes und nicht die Realität? Oder ist unser Umgang mit Identität die Pfeife? Ich bin keine Pfeife, aber ich wäre eine Pfeife, wenn ich annehmen würde, ich sei eine Pfeife?
Kurzum: Das Programmheft ist nicht fertig geworden. L wird mich wahrscheinlich umbringen. Aber ich habe wenigstens das Pfeifenproblem gelöst: We are all Pfeifen. (Um mal ein bisschen Universalismus in den gekippten See zu schütten.)
LACAN - ICH HABE GANZ VERGESSEN, WAS ICH VERGESSEN HABE
In der Nacht auf dem Heimweg beschließe ich, noch ein wenig herumzufahren, bis ich müde bin. Ich komme an einem Container vorbei, im Inneren läuft ein Film. Es gibt zwei Tische wie in einem Eisenbahnrestaurant mit Serviettenhalter und Salzstreuer, aber niemand ist da.
Ich bin ausgehungert nach Filmen und stelle das Fahrrad zur Seite und gucke ihn mir an. Es ist ein antikapitalistischer Film aus einem früheren Jahrzehnt oder von jetzt, aber auf alt gemacht. Es ist einerlei, denn viel geändert hat sich seit Adorno nicht. Vielleicht der Sprachduktus. Manchmal wird der Film unterbrochen und ein paar lehrreiche Underlines vorgelesen. Ich habe ganz vergessen, wie viel Kommunismus auch mit Pädagogik zu tun hat. Den einen Satz, erinnere ich mich, habe ich schon mal gehört, aber wieder vergessen; dann habe ich vergessen, dass ich ihn vergessen habe.
Ich will ihn mir diesmal aufschreiben, habe aber keinen Zettel bei mir. Wenn ich ihn jetzt ins Notizbuch vom Handy schreibe, werde ich es bis zu Hause vergessen haben, weil ich das Notizbuch vom Handy nie nutze. Also schreibe ich es per SMS an M, wie ich das in solchen Fällen immer tue, weil ich weiß, er wird mich später anrufen und fragen, was ich da eigentlich von ihm wollte. Andere Menschen würden sich vielleicht wundern, was ich von ihnen wollte, aber sie würden mich nicht zurückrufen und fragen, was ich von ihnen wollte. M ruft jedes Mal an und fragt, und dann würde ich mich wieder daran erinnern, dass ich einen Satz hatte nicht vergessen wollen und er im Handy unter den Nachrichten an M gespeichert ist.
In anderen Gesellschaften, tippe ich also in einer Nachricht an ihn, geben sie nie equal back, immer ein wenig mehr oder weniger, sonst heißt es, der andere wolle einen nicht mehr wiedersehen.
Dann schreibe ich noch Eisverkäuferin und Lina Braake; Lina Braake heißt der Film im Container und Eisverkäuferin, weil ich heute Mittag nicht genügend Geld bei mir hatte, um mein Eis zu bezahlen und ich die Eisverkäuferin gefragt habe, ob ich eine Anzahlung bei ihr machen könne. Prompt ruft M an und fragt, ob ich ihn schon wieder als Notizzettel missbrauche. Ich sage, nein, nein, nein, ich wolle nur sichergehen, dass er wisse, ich wolle ihn wiedersehen. Er lacht, denn er weiß ganz genau, dass ich lüge. Ich lache auch und frage: Kannst du bitte auch Lacan für mich notieren, bevor ich es vergesse...
kontakt@parallelallee.de